Die Chronik unserer Gemeinde


Anfänge der Vilstalgemeinde
Ein wahrhaft bewegter Aufbruch…


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Pfarrer Guido Missol ist die erste „offizielle“ Stimme, die die evangelisch-lutherische Kirche
in Reisbach hatte: Er kam unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hierher. Er war selbst
Flüchtling und der Beginn seines Wirkens ist sozusagen die Geburtsstunde der evangelischen
Vilstalgemeinde.
Diese Aufzeichnungen können uns heute mehr sein als nur ein interessanter Rückblick auf
vergangene Zeiten. Die Worte von Pfarrer Missol sind ein gutes Stück christlicher Hoffnung:
Auch in schweren und drangvollen Zeiten lebt der Glaube und Kirche kann wachsen. Dies
gibt Mut und Schwung in schwierigen Zeiten nicht mit dem Blick bei den „roten Zahlen“
hängenzubleiben, sondern den Glauben und das Leben der Menschen zu sehen.

Pfarrer Missol schrieb seine Aufzeichnungen im Jahr 1965.

Hier sind einige stark gekürzte Auszüge aus seinen Erinnerungen wiedergegeben:

Der Anfang in der niederbayrischen Diaspora
Mit dem Schreiben des Evang.-Luth. Landeskirchenrats München vom 10. November 1945
wurde ich als Amtsaushilfe nach Dingolfing einberufen.
Mit einem Bierauto kam ich schließlich in Reisbach an. In einem Gasthause konnte ich
schlafen. Am nächsten Morgen meldete ich mich beim Bürgermeister, der mit ein Zimmer
verschaffte. Obwohl ich Protestant war und aus Preußen kam, wurde ich nicht nur freundlich,
sondern herzlich aufgenommen. Trotzdem wohnte ich in diesem Hause nur knapp eine
Woche. In den nächsten Tagen schon, bekam ich vom Bürgermeister eine leerstehende
Wohnung, bestehend aus 2 Zimmern und Küche. „Glück“ konnte man das nicht mehr nennen.
Nach dem 1. Gottesdienst, den ich in der kath. Kapelle in Reith b. Reisbach am
1.Adventssonntag dem 2.Dezember 1945 gehalten habe, machte ich mich auf den Weg, um
meine Familie nach Reisbach zu holen. Die 15 km nach Dingolfing ging ich zu Fuß und
bestieg Montag früh den Zug in Richtung Nürnberg. Nach einer abenteuerlichen Hin- und
Rückfahrt war ich am Samstag den 8.Dezember mit meiner Familie in Reisbach und konnte
am nächsten Sonntag meinen 2.Gottesdienst, diesmal Frontenhausen halten.

Die evangelische Gemeinde in Reisbach/Vils
1943 und 1944 kamen viele Hamburger nach Reisbach, da Hamburg im Bombenkrieg zerstört
war. Kirchlich wurden die evang. Menschen aus Landshut betreut. Die Gottesdienste fanden
in der Klosterkirche statt.
Als ich Ende November 1945 nach Reisbach kam, war hier schon manche Vorarbeite getan.
Es bestanden schon 6 Predigtstationen, die später auf 8 vermehrt wurden, und 8
Unterrichtsstationen. Arbeit gab es also von Anfang an.
Die Lebensbedingungen all dieser Flüchtlinge waren sehr primitiv. Als ich nach meiner
Ankunft in Reisbach in das größte der beiden Lager ging, standen 15-20 Frauen um einen
großen Herd herum. Auf dem Herd stand eine gleiche Anzahl von Kochtöpfen. Das Mittagessen
wurde zubereitet. Mehr als über die vielen Kochtöpfe habe ich über den Frieden und über die
Eintracht der Frauen rings um den Herd gestaunt.

Die Verkündigung in Predigt und Unterricht
1946 habe ich 149 Gottesdienste gehalten. Vertreibung und Flucht aus der Heimat hatten
lange Zeit einen Platz in der Verkündigung bei Kasualien. Bei Beerdigungen wird sicher
Vertreibung und Flucht eine Rolle spielen, bis der letzte Flüchtling gestorben ist.

Mühsamer als die Predigt war der Unterricht. Die Zahl der evang. Schüler war überall groß.
In Frontenhausen waren es über 100 Kinder. Wir hatten keinerlei Schulbücher. Nur in der
Mittagsstunde zwischen dem Vormittags- und Nachmittagsunterricht konnten die evang.
Schüler zusammengefasst werden. Dabei saßen die Schüler aller Klassen zusammen. Später
konnten Blätter mit Liedern und Bibelsprüchen verteilt werden. Eines Tages kommt ein Kind
ohne dieses Blatt zur Schule. Auf meine Frage, wo das Blatt sei, antwortete es wörtlich:
„Mein Vater hatte kein Papier und da hat er es auf die Toilette mitgenommen.“ [...]

Verkehrsmittel
Im Bereich der Gemeinde Reisbach gab es 1945 keinen Meter geteerter Straße. Da die
Gemeinde einen Radius von rund 8 km hatte, war es oft unendlich schwierig die Außenstellen
zu erreichen. Die Strecken zu Fuß zurück zu legen dazu fehlte nach all den Jahren des Krieges
und der Gefangenschaft einfach die physische Kraft, zumal 1945 und 1946 Schmalhans
Küchenmeister war. Eine Hamburgerin, die zu meiner Gemeinde gehörte, lieh mir ein altes
Fahrrad, das aber sehr schlechte Bereifung hatte. Da sich diese Bereifung auf schlechten
Wegen mehr und mehr auflöste, nahm die Hamburgerin ihr Rad zurück. Meine Lage war
beinahe wieder trostlos, aber wieder trat ein, was man nicht mehr als „Glück“ bezeichnen
konnte. In diesen Tagen bekam ich vom Wirtschaftsverband in Dingolfing einen
Bezugsschein für ein Fahrrad und für den Bezugsschein dann das Fahrrad selbst. Eine sehr
große Not war beseitigt. Fast sechs Jahre lang bin ich dann täglich mit diesem Fahrrad bei
jedem Wind und Wetter in die Gemeinde gefahren. Nicht eine einzige Unterrichtsstunde ist
des Wetters oder des Weges wegen ausgefallen.

Amtstracht und Bekleidung
Der letzte Koffer mit Bekleidungsstücken für mich war auf der Flucht verloren gegangen.
Alles Herumfragen und Bitten um einen Talar, der vielleicht irgendwo wenig benutzt in einer
Friedhofskapelle hing, blieb ergebnislos. Ich begann also meinen Dienst in Reisbach im
Straßenanzug. Auch die ersten Konfirmationen im Frühjahr 1946, Abendmahlsfeiern und
Beerdigungen wurden in Zivil vollzogen. Die Gemeinde nahm daran keinen Anstoß, da jeder
die allgemeine Lage kannte.
Ein paar alte Hosen waren durch die täglichen Fahrten auf dem Fahrrade auf dem
Hosenboden vollkommen zerrieben und an den Krempen ausgefranzt. Alles Flicken und
Stopfen half nicht mehr. Wie der Dienst weiter gehen sollte, war mir nicht klar. Trotzdem
ging es weiter. In amerikanischen Kleiderspenden fand sich eines Tages eine alte Hose, die
passend  gemacht werden konnte. Wählerisch war man ja nicht und durfte es auch nicht sein.

Die Gottesdienstordnung
Die evang. Gemeinden in Niederbayern waren sehr bunt zusammengewürfelt aus allen
Himmelsrichtungen, aus vielen Ländern Europas und aus vielen Kirchen. Welche Ordnung
sollte der Gottesdienst haben, das war die Frage vor der ich stand und die beantwortet werden
musste. Sich an die Ordnung der bayerischen Agende zu halten war unmöglich, da ich diese
Agenda nicht besaß, die Gemeinde keine bayerischen Gesangbücher hatten und der
Gottesdienst in der ersten Zeit ohne Instrumentalbegleitung von statten ging. Eine Ordnung
irgendeiner Flüchtlingsgruppe zu übernehmen hielt ich für falsch, darum legte ich mir eine
eigene einfache Form zurecht.
In diesem Zusammenhang etwas über die erste Abendmahlsfeier anlässlich der Konfirmation
am Palmsonntag 1946. Abendmahlswein war auf normalem Wege nicht zu beschaffen. Wieder
kam mir ein besonderer Umstand zu statten. Zu meiner ersten Konfirmandengruppe gehörte
die Tochter eines Eisenbahners, der Verwandte in Wiesbaden hatte. Durch ihn bekam ich 2
Flaschen Wein mit dem, wenn auch verdünnt, Abendmahl gehalten werden konnte. Noch ein
anderes Mal habe ich von diesem Eisenbahner Wein bekommen, ohne dass er die Absicht hatte,
mir Wein zu geben. Von seinen Verwandten hatte er sich wieder einmal einige Flaschen Wein
geholt. Als er auf dem Heimatbahnhof ankam, beschlagnahmte die Polizei das Paket. Um den
Wein zu retten gab er an, es sei Abendmahlswein für den evang. Pfarrer. Als die Polizei bei
mir anrief, sagte ich „ja“. Der Wein wurde freigegeben, aber nun bestand ich bei dem
Eisenbahner auf einige Flaschen Wein und ich bekam sie.